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Cancel Culture – Gefahr für die Meinungsfreiheit?


Cancel Culture – ein Begriff, der vor allem in den USA Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat. Häufig wird dieses Schlagwort als Versuch der Rechten abgetan, liberale Positionen herabzusetzen. Doch steckt vielleicht mehr dahinter? Und vor allem: Stellt Cancel Culture tatsächlich eine Bedrohung für die Meinungsfreiheit dar?

#cancelled

„Wer einem nicht passt, soll von der Bildfläche verschwinden.“ So lautet derzeit das Motto in den sozialen Medien. Wohin man schaut, werden Menschen „gecancelt“; das heißt, es wird ihnen durch Shitstorms und Boykottaufrufe im digitalen Raum die Unterstützung entzogen und der Kampf angesagt. Konsequenzen für betroffene Personen bleiben oft nicht in der virtuellen Welt, sondern reichen bis in das analoge Leben. So kommt es zu Berufsverlusten und Rufschädigungen. Das Phänomen Cancel Culture fasste in den letzten Jahren vor allem in amerikanischen Medien Fuß, hat aber bereits auch erste Wurzeln im deutschsprachigen Raum geschlagen. Wer kennt ihn schließlich nicht, den verhängnisvollen Hashtag #cancelled, der vor allem auf Plattformen wie Twitter, Instagram und TikTok immer häufiger Anwendung findet. Als prominentes Beispiel dieser neuen Kultur des „Auslöschens“ kann die „Harry Potter“- Autorin J.K. Rowling genannt werden, die im vergangenen Jahr aufgrund von Transphobie-Vorwürfen, die Wut der Öffentlichkeit zu spüren bekam. In der Folge transkritischer Tweets der Milliardärin kam es zu einem Aufschrei der Empörung in den sozialen Medien, dessen Ausmaß von Boykott-Aufrufen bis zu Morddrohungen reichte.

“Get up. Stand up. Speak up. Do something.“

2017 rief die Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke die #MeToo-Bewegung ins Leben, um die Stimmen der Opfer sexueller Gewalt hörbar zu machen. Die gewaltige Resonanz in den sozialen Medien war schockierend! Auslöser für diese Aktion war der Weinstein-Skandal, der an erster Stelle zwei Reaktionen hervorrief: Wut und ein Gefühl von Ohnmacht. Laut Berichten aus der Hollywood-Szene waren sich viele der sexuellen Übergriffe des Produzenten Harvey Weinstein bewusst. Niemand jedoch wagte es, in seine Ungunst zu fallen und gegen ihn auszusagen. Betroffene fühlten sich machtlos. In der Folge wurden soziale Netzwerke als sogenannter court of public opinion entdeckt (sog. „Gericht der öffentlichen Meinung“, bezieht sich auf die Nutzung der Nachrichtenmedien, um die öffentliche Unterstützung für die eine oder andere Seite in einem Gerichtsverfahren zu beeinflussen). Diese Entdeckung begründet den Ursprung der Cancel Culture. Heute wird das Schlagwort besonders gegen Personen verwendet, deren politische Positionen und Meinungen als anstößig oder beleidigend aufgefasst werden. Dieses Vorgehen ist gut begründbar. Müssen Menschen, die ein Fehlverhalten an den Tag legen, schließlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden? Doch was, wenn Personen falsch beschuldigt werden? Oder Medien auf Grund von öffentlichem Druck zögerlich sind, andere Seiten einer Geschichte zu beleuchten? Und wer entscheidet, wer aus welchem Grund „gecancelt“ wird?

Bedrohung der Meinungsfreiheit?

Ein falsches Wort. Eine unüberlegte Bemerkung. Reine Unwissenheit. Oder ein Hinterfragen des Mainstreams. All dies ist Grund genug für den modernen Internet-Mob, um die virtuellen Heugabeln zu zücken und zu den Fackeln zu greifen. Was als Streben nach Gerechtigkeit und Möglichkeit der Solidarität mit unterdrückten Minderheiten durchaus Berechtigung hat, wird heute vielfach dafür kritisiert, eine Spur zu weit zu gehen. Viel zu schnell werden Personen heute für ihre Taten „gecancelt“, etwa aufgrund unbedachter Äußerungen oder längst vergangener Tweets. Das bringt eine Gefahr für die Meinungsfreiheit mit sich. Laut Artikel 19 der Menschenrechtserklärung ist jeder Mensch frei, die eigene Meinung zu äußern und zu verbreiten, ob sie nun als anstößig aufgefasst wird oder nicht. Gegensätzliche Standpunkte sind zu akzeptieren. Zunehmend drücken Personen des öffentlichen Lebens jedoch die Sorge aus, dass wir zurückhaltender werden, unsere Gedanken zu äußern und kritische Meinungen auszudrücken, aus Angst geächtet zu werden. Die freiberufliche Kommentatorin Ayishat Akanbi setzt sich viel mit der Thematik auseinander. Ihrer Ansicht nach ist es „einfacher, Menschen zu verurteilen als Ideen“. Sie vertritt den Standpunkt, dass Cancel Culture zu einer Kultur der Engstirnigkeit führe. Anstatt die Komplexität von Situationen wahrzunehmen und zu beleuchten sowie es Personen zu ermöglichen, aus vergangenen Fehlern zu lernen und sich weiterzuentwickeln, greift die Öffentlichkeit unreflektiert an und urteilt häufig vorschnell.

Hier geht es zum Youtube-Kommentar von Ayishat Akanbi!

Falsche Verdächtigung

Sobald der Stein der virtuellen Hexenjagd ins Rollen gerät, ist er schwer zu stoppen. In der Vergangenheit hat es im Zuge der Cancel Culture durchaus falsche Anschuldigungen mit gravierenden Folgen für betroffene Personen gegeben. Diese Vorkommnisse zeigen eines: Der court of public opinion ersetzt in keiner Weise das akribische Auseinandersetzen und Abwiegen von Schuld, so wie es in einem Gerichtsverfahren vollzogen würde. Bloße Entladung von Wut und Zurschaustellung der eigenen moralischen Überlegenheit nützen niemandem etwas. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, die selbst Opfer von vorschnellen Anschuldigungen geworden ist, verteidigt sich in einem dreiteiligen Essay und prangert die vorherrschende Cancel Culture an, die es jungen Menschen verunmögliche, eigene Meinungen zu bilden. „Ich habe mit jungen Leuten gesprochen, die mir sagen, dass sie Angst haben etwas zu twittern, dass sie ihre Tweets lesen und wieder lesen, weil sie befürchten, angegriffen zu werden. Die Annahme vom guten Willen ist tot. Was zählt, ist nicht das Gute, sondern der Schein des Guten.“, schreibt sie in ihrem Essay.

Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein

Toleranz ist eine in unserer Gesellschaft hochgehaltene Tugend. Die UNESCO-Prinzipien der Toleranz[1] betonen deren Wichtigkeit für die Friedenssicherung jeder Gesellschaft. „Toleranz beginnt da, wo Verständnis aufhört.”, besagt ein bekanntes Sprichwort. Viel zu oft verführen uns soziale Netzwerke dazu, unsere Meinung in die Welt hinauszuposaunen sowie unüberlegt und uninformiert Gedanken zu teilen, die wir später vielleicht nicht mehr so formulieren würden. Was es braucht, ist das Bewusstsein dafür, dass schnelles Urteilen oft unbegründet ist und Menschen facettenreicher und komplexer sind, als ein einzelner Tweet uns glauben lässt. Kommunikation, Diskurs und die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen fördern die eigene Entwicklung und eröffnen uns neue Gedankenwelten. Verankern wir eine Kultur des gegenseitigen Zuhörens und respektvollen Umgangs miteinander! Canceln wir „Cancel Culture “!

Quellen

https://www.sueddeutsche.de/kultur/cancel-culture-meinungsaeusserung-rechtsstaat-1.4657929

https://www.theguardian.com/culture/2019/feb/26/ayishat-akanbi-my-problematic-ideas-are-my-favourite-ones

https://lahstalon.org/its-time-to-cancel-cancel-culture/

https://www.chimamanda.com/news_items/it-is-obscene-a-true-reflection-in-three-parts/

https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte

https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1995_Erkl%C3%A4rung%20%C3%BCber%20die%20Prinzipien%20der%20Toleranz.pdf

https://uni.de/redaktion/unesco-erklaerung-von-prinzipien-der-toleranz

 

[1] https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1995_Erkl%C3%A4rung%20%C3%BCber%20die%20Prinzipien%20der%20Toleranz.pdf

Titelbild: von https://twitter.com/Dataracer117/status/1272737061703790592


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