Kenne deine Rechte

Ein Demokratie-Schreckgespenst namens TikTok


Die Mechanismen von sozialen Medien, insbesondere der Social-Media-Plattform TikTok, sind alles andere als förderlich für Demokratie- und Menschenrechtsaktivismus. Die Plattformen deshalb aber rechten und reaktionären Kräften zu überlassen, wäre verhängnisvoll.

Eine New-York-Skyline untermalt mit melancholischer Musik; eine lebensfrohe orange Katze, die neugierig ihren neuen Kratzbaum inspiziert; ein Livestream aus einem FPÖ-Bierzelt – was der TikTok-Algorithmus mir so alles in die Timeline spült, entbehrt auf den ersten Blick jeglichen Zusammenhangs. Und doch steckt dahinter eine klare Logik: Eine meiner Kolleginnen, mit der ich den TikTok-Account des Kenne-deine-Rechte-Podcasts „Weltverbessern für Anfänger:innen“ betreibe, war unlängst in New York; ich persönlich habe eine Schwäche für lustige Katzenvideos und drücke bei diesen meist sofort begeistert den Like-Button, und unlängst erschien auf unserem Account ein Video, das den Vorschlag der FPÖ, die Schulpflicht abzuschaffen, kritisiert.

Der Mix stimmt also, und das ist wenig verwunderlich. Denn eines kann TikTok: die Daten seiner Nutzer:innen gezielt sammeln und analysieren, um ihnen möglichst passend auf sie zugeschnittenen Content zu bieten. Das ist gut, um die Leute interessiert und aufmerksam zu halten. Für die Demokratie und gesellschaftlichen Diskurs ist das aber alles andere als gut. „Warum ‚soziale Medien‘ wie TikTok, X und Instagram die Demokratie gefährden“, titelte z.B. die Tiroler Tageszeitung vor kurzem und berief sich auf Fachleute, die Phänomene wie Polarisierung und Fake News in sozialen Netzwerken als Gefahr für die Demokratie ansehen. Aus Expert:innenkreisen hört man nicht selten sogar, als demokratische Kraft solle man lieber ganz die Finger von TikTok lassen. Denn Engagement für die Demokratie und TikTok, das passe einfach nicht zusammen. Doch so sehr TikTok menschenrechts- und demokratiebildende Arbeit einschränkt und teils sogar verunmöglicht, so sehr ist es wichtig, dass Demokratie- und Menschenrechtsaktivist:innen dem sozialen Medium nicht Lebewohl sagen – denn die Plattform ausschließlich rechten und reaktionären Kräften zu überlassen, wäre fatal.

In den Schatten verbannt

Menschenrechtscontent auf TikTok zu produzieren – das hat das Kenne-deine-Rechte-Team am eigenen Leib erlebt – ist alles andere als einfach. Denn die Plattform reagiert geradezu allergisch auf bestimmte Wörter, die für aktuelle Menschenrechtsdiskurse unabdingbar sind. Kaum erwähnt man Probleme wie Rassismus und Sexismus oder verweist auf bestimmte – vor allem sexuelle und geschlechtliche – Minderheiten, schränkt der Algorithmus die Sichtbarkeit des Beitrags ein. Ein Video, das innerhalb der ersten Minuten noch ein exponentielles Wachstum an Views verzeichnete, stagniert danach stunden- bis tagelang bei der gleichen Zahl an Klicks und wird niemandem mehr auf der For-you-Page, der TikTok-Startseite, angezeigt. Auch das Erwähnen der ethnischen Minderheit der Uigur:innen, die von der chinesischen Regierung teils in Zwangsarbeitslager gesteckt werden, goutiert der Konzern aus China z.B. ganz und gar nicht und lässt entsprechende Beitrage schnell von der Bildfläche verschwinden. Von diesem „Shadowbanning“, so der Fachbegriff für das Phänomen, sind nicht nur vermeintlich kontroverse oder heikle Themen und Begriffe betroffen, selbst das Wort „Menschenrechte“ verbannt einen sogleich in die Untiefen von TikTok. Ein Mechanismus, der die Arbeit an menschenrechtsrelevanten Themen oft frustrierend macht. Zu regulärer Recherche, Videokonzeption und Schnitt gesellt sich eine Form der Selbstzensur: Welche Wörter kann ich verwenden, was muss ich umschreiben, welche Begriffe dürfen in der Caption aufscheinen? Das ist zumindest mühsam, wenn nicht gar zermürbend – und aus einer demokratiepolitischen Sicht höchstproblematisch.

Doch Shadowbanning ist lange kein Grund, aufzugeben oder die Finger von TikTok zu lassen. Progressive Kräfte zeigen immer wieder, wie trotz aller Hindernisse die Plattform effektiv genutzt werden kann, um für wichtige Anliegen einzustehen und den Algorithmus zu überlisten. Wortneuschöpfungen für blockierte Wörter, kreative Umschreibungen für bestimmte Phänomene oder das Aufgreifen von populären Trends zum Zwecke der Demokratie- und Menschenrechtsbildung sind Wege, wie die Zensurmechanismen von TikTok umgangen werden können. Über diese Mechanismen Bescheid zu wissen, ist für demokratie- und menschenrechtspolitisch engagierte TikToker:innen unerlässlich und wichtig, aber auch potenziell zermürbend. Denn die konstante Selbstzensur und Mühe, die der Umgang mit der Plattform erfordert, können schnell zu Frust führen, insbesondere wenn die Plattform beginnt, Umschreibungsstrategien zu durchschauen, und man konstant neue Wege suchen muss, das soziale Medium auszutricksen.

Das Problem liegt im System

Die offizielle Begründung für Phänomene wie Shadowbanning und das Blockieren bestimmter Begriffe verortet die Plattform selbst im Schutz der User:innen. Das Vorgehen diene vermeintlich dazu, Hass und Polarisierung im Internet zu reduzieren und TikTok zu einer sicheren Plattform zu machen. Eine ähnliche Argumentationslinie verfolgte unlängst Instagram, als es ankündigte, die Sichtbarkeit von politischem Content in Zukunft massiv einschränken zu wollen: Es gehe um Sicherheit und den Schutz vor Desinformation. Und tatsächlich lässt sich bei manchen Begriffen, die TikTok auf der Abschussliste hat, eine gute Intention erkennen. So werden u.a. viele Schimpfwörter und beleidigende Ausdrücke blockiert und auch Referenzen zu Tod und Gewalt werden häufig von der Plattform als potenziell gefährlich geflaggt. Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die undurchsichtige Logik der Begriffszensur eben auch viele diskursrelevante Wörter betrifft, die für ein Sprechen über menschenrechtsrelevante Inhalte schlicht und ergreifend unverzichtbar und keineswegs per se gefährlich oder hasserfüllt sind.

Besonders heikel wird es gerade dann, wenn vonseiten der Plattformbetreiber:innen behauptet wird, nicht zu stark politisieren und polarisieren zu wollen. Nach dieser Logik wird der Verweis auf nicht-heteronormative Lebens- und Beziehungsformen bald einmal als politisches Statement verstanden, der traditionsbejahende Content eines selbsternannten Männlichkeitstrainers, der jungen Männern zur Wiederentdeckung ihrer „naturgegebenen Instinkte“ rät, oder einer „Trad Wife“, einer Frau, die die Unterordnung unter ihren Ehemann als selbstverständlich ansieht, aber nicht. Politisch ist eben nicht immer gleich politisch, vor allem in den Augen eines profitorientierten Unternehmens, das wie in TikToks Fall stark von den politischen Haltungen des chinesischen Regimes beeinflusst ist – Stichwort: Queerfeindlichkeit.

Mut, Recht und Bildung

Aktivistisch auf TikTok tätig zu sein, erfordert demnach nebst viel Durchhaltevermögen auch einen gewissen Mut, sich den Rahmenbedingungen zum Trotz für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen und durch innovative Lösungen die Plattform auszutricksen und für eigene Zwecke zu nutzen. Doch mit Ausdauer und Courage allein ist es nicht getan. Gerade auf lange Sicht braucht es nachhaltigere Lösungen für das Problem der Content-Beschränkungen in sozialen Netzwerken. Wichtig wäre dahingehend vor allem ein rechtlicher Rahmen, der Plattformen in die Pflicht nimmt, gegen Diskriminierung und Hass im Netz effektiv, zeitnah und zielgerichtet vorzugehen, dabei aber gleichzeitig Meinungsfreiheit sicherzustellen und Zensur zu unterlassen. Und es braucht auch entsprechende Bildungsstrategien, die Menschen dazu befähigen, Online-Content besser einordnen zu können und Inhalte kritisch zu bewerten und zu hinterfragen.

Doch bis all diese Maßnahmen zu greifen beginnen, wird es noch eine Zeit lang dauern. Aktuell braucht es daher vor allem weiterhin engagierte Menschen, die sich nicht von den widrigen Bedingungen der Plattform einschüchtern lassen und die die For-you-Pages der mittlerweile über eine Milliarde TikTok-User:innen mit menschenrechtsbejahendem Content fluten. Denn Stammtischparolen und rassistische Sager gibt es dort leider schon genug.

Hier geht’s zum TikTok-Account des WFA-Podcasts von Kenne deine Rechte


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