Ablenkung oder Hoffnungsschimmer? Griechenlands Entscheidung im europäischen Kontext
“The vote has passed: as of tonight, Greece is proud to become the 16th EU country to legislate marriage equality. This is a milestone for human rights, reflecting today’s Greece – a progressive, and democratic country, passionately committed to European values.”
Alle paar Jahrzehnte gibt es weltweit einen unbestreitbaren Aufschwung der rechtsextremen Politik: Am Anfang und in der Mitte der 1980er Jahre, in den 2000er Jahren und auch heutzutage ist er unübersehbar, vielleicht sogar still und stetig wachsend seit dem Schub in den 2000ern. Doch trotz dieses stetigen Aufstiegs der Rechtsextremen, insbesondere in Europa, wurde in Griechenland vor kurzem eine historische Entscheidung getroffen: Die gleichgeschlechtliche Ehe und die Adoption für gleichgeschlechtliche Paare wurden ab dem 15. Februar 2024 legalisiert.
Da Griechenland das erste mehrheitlich orthodoxe Land war, das eine solche Entscheidung getroffen hat, haben viele Mitglieder der LGBTQ+ Community und deren Allies auf diese Nachricht voller Hoffnung und Erleichterung reagiert: Die Erwartung sei, dass das Land eine Art Vorreiter im europäischen Kampf für Gleichstellung werden könnte. Vielleicht, so könnte man hoffen, wird dies der erste Schritt zu einer breiteren Akzeptanz der queer Community in den Reihen der orthodoxen Kirche sein.
Ein wichtiger Faktor scheint jedoch in dieser optimistischen Diskussion unberücksichtigt zu bleiben – nämlich der bereits erwähnte Aufstieg des Rechtsextremismus. Die Frage bleibt: Welchen Sinn ergibt die Entscheidung Griechenlands im breiteren Kontext des aktuellen politischen Klimas in Europa?
Die Treiber des Rechtsextremismus im Fokus
Rechtsextremismus entwickelt sich nicht von heute auf morgen: Wie viele wissen und wie bereits erwähnt wurde, hat sich der derzeitige Aufstieg der rechtsextremen Politik, insbesondere in Europa, von Tag zu Tag verfestigt. Und dafür sind viel mehr Faktoren verantwortlich, als man auf den ersten Blick vermuten würde.
- Ökonomische Abschwünge: Bestimmte Teile der Bevölkerung können infolge wirtschaftlicher Abschwünge und der weit verbreiteten Arbeitsplatzunsicherheit Ängste und Unzufriedenheit empfinden. Diese auf die Wirtschaft bezogenen Ängste, die Schuldzuweisung an Minderheiten, die Globalisierung oder bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen können für den vermeintlichen Rückgang des Lebensstandards verantwortlich sein und daher von rechtsextremen Bewegungen ausgenutzt werden. Heutzutage lässt sich dieser Faktor zum Beispiel auf die Corona-Pandemie zurückverfolgen.
- Kulturelle und Identitätsbezogene Unsicherheit: Ängste, die im Zusammenhang mit kulturellen und identitätsbezogenen Veränderungen in einer Gesellschaft stehen, werden häufig von rechtsextremen Bewegungen ausgenutzt. Politiker*innen und politische Bewegungen können eine nostalgische Sicht auf die Vergangenheit fördern und sich gegen gesellschaftliche Veränderungen wie Multikulturalismus, LGBTQ+-Rechte oder größere Vielfalt wenden, indem sie diese Veränderungen als Bedrohung der nationalen Identität darstellen.
- Nationalismus und Populismus: Wie auch schon im 2. Punkt ersichtlich, bedienen sich rechtsextreme Bewegungen häufig einer nationalistischen Rhetorik und betonen die Notwendigkeit, die nationale Souveränität, das kulturelle Erbe und die traditionellen Werte zu schützen. Populistische Anführer*innen dieser Bewegungen präsentieren sich oft als Verfechter des „einfachen Volkes“ gegen eine vermeintlich korrupte Elite. Perfekte Beispiele für solche populistischen Parteien und deren Ideologien können heutzutage in Staaten wie Italien beobachtet werden.
- Thematisierung der Einwanderung: Für viele rechtsextreme Bewegungen ist die Einwanderung ein zentrales Thema. Migrant*innen können zu Unrecht als Bedrohung für die Sicherheit, die Wirtschaft und die Kultur eines Landes dargestellt werden, insbesondere in Krisensituationen. In Zeiten von erhöhter Migration oder Flüchtlingskrisen können anti-migrantische Gefühle besonders stark sein, wie zum Beispiel im aktuellen Kontext des Krieges im Nahen Osten oder auch in der Ukraine.
- Social Media und Desinformation: Die Reichweite sozialer Medien ermöglicht täglich die rasche Verbreitung von extremistischen Ideologien und Fehlinformationen. Online-Plattformen können von extremistischen Gruppen genutzt werden, um zu rekrutieren, zu organisieren und ihre Geschichten zu verbreiten, oft mit einem Fokus auf politisch marginalisierte oder ignorierte Personen. Beispiele, die gut darstellen, wie schnell soziale Medien rechtsextreme Nachrichten verbreiten können, findet man insbesondere auf Plattformen wie TikTok oder Facebook, wo der Algorithmus überraschenderweise viele solche Inhalte fördert.
- Politische Polarisierung: Rechtsextreme Bewegungen entwickeln sich häufig in einem Umfeld, das durch politische Polarisierung gekennzeichnet ist. Wenn der politische Mainstream-Diskurs zersplittert und polarisiert ist, wenden sich manche Menschen extremen Ideologien zu, um ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo zum Ausdruck zu bringen. Endlich erreichen wir also den Fall Griechenland: Was hat die Entscheidung, gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren, mit dem Aufschwung des Rechtsextremismus zu tun?
Die historische Entscheidung in Griechenland
Viele Menschen haben die Entscheidung Griechenlands mit Freude und Dankbarkeit aufgenommen: Die Tatsache, dass ein mehrheitlich orthodoxes Land ein Gesetz zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe verabschiedet hat, ist in der Tat ein Grund zur Freude, egal wie man es betrachtet. Dennoch warf die Entscheidung einige Fragen auf, insbesondere von denjenigen, die mit der griechischen Politik etwas vertrauter sind. Denn, so lautete die Frage, die sich alle stellen mussten, warum würde die in Griechenland regierende konservative Mitte-Rechts-Partei (New Democracy Party; EPP) die gleichgeschlechtliche Ehe legalisieren?
Die Antwort ist komplexer, als man vielleicht hoffen würde: Die Wahrheit hinter der freudigen Entscheidung ist, dass die regierende Mitte-Rechts-Partei bei der Verabschiedung des Gesetzes definitiv nicht allein war – und dass die Entscheidung auf keinen Fall einstimmig war. Stattdessen musste der griechische Ministerpräsident, Kyriakos Mitsotakis, der sich selbst als liberal einstuft, auf die Stimmen der Opposition bauen: Mehr als 50 Gesetzgeber*innen seiner eigenen Partei sowie auch alle rechten Parteien im Parlament widersetzten sich dem Gesetzesvorschlag. Dennoch wurde das Gesetz mit 176 von 300 Stimmen dafür verabschiedet.
Die beste Erklärung, die die unerwartete Entscheidung verständlicher macht, kommt von Elena Akrita, einer Abgeordneten der führenden Oppositionspartei Syriza, die mit der europäischen Nachrichtenwebsite Euractiv über das Gesetzgebungsverfahren sprach:
„Die New Democracy Partei ist nicht fortschrittlich, sie hatte nur keine andere Wahl, als die Dinge mit diesem Gesetz zu beschleunigen […], besonders nachdem Griechenland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde“, erzählte sie Euractiv.
Tatsächlich würde die Verurteilung Griechenlands vor dem Europäischen Gerichtshof vieles erklären: Trotz des Aufschwungs des Rechtsextremismus in Europa gibt sich der Europäische Gerichtshof immer die Mühe, gerechte Urteile auf Basis der geltenden (Menschen-)Rechtslage zu fällen. Daher wurde Griechenland im Dezember 2021 in 8 Fällen aufgrund systematischer Menschenrechtsverletzungen vom EGMR untersucht – was eine gute Erklärung darstellt, wieso die Regierung des Landes von einem politisch stabilen Moment profitieren würde, um sich vor weiteren Beschwerden durch den EGMR in diesem Zusammenhang zu schützen.
Mitsotakis war der Meinung, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um den Gesetzesentwurf einzubringen, weil er nicht nur „das politische Kapital hat, das er ausgeben kann, um etwas durchzusetzen, das sowohl innerhalb seiner Partei als auch in der Gesellschaft etwas umstritten ist, sondern auch, weil er das Gefühl hat, dass er die Kontrolle über seine eigene Partei habe”, sagt Wolfgang Piccoli, Co-Präsident für politische Risiken bei einer Beratungsfirma, dem Magazin Huffpost.
Bisher war der politische Diskurs in Griechenland also nicht allzu zersplittert, jedoch wird das neue Gesetz bestimmt Auswirkungen darauf haben.
Ist der Kampf vorbei?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass rechte Parteien in Griechenland diesen Moment ausnutzen werden, um diejenigen Einwohner*innen des Landes, die sich in diesem Kampf auf der Seite der orthodoxen Kirche befinden, von rechtsextremen Idealen zu überzeugen: Sie und die orthodoxe Kirche standen, wie man sich gut vorstellen kann, dem neuen Gesetz sehr ablehnend gegenüber und haben mittels zahlreicher Proteste vor dem griechischen Parlament stark dagegen kampagnisiert. Vom ehemaligen griechischen Ministerpräsident Antonis Samaras wurde sogar explizit erläutert, dass gleichgeschlechtliche Ehe “kein Menschenrecht” sei. Obwohl das Land daher derzeit einen Siegesmoment der LGBTQ+ Community feiert, der eine unbestreitbare Rolle in der Erleichterung des Lebens von queeren griechischen Personen spielt, könnte es auch andere, eher negative Folgen geben. Die bedeutendste darunter ist die Polarisierung des politischen Diskurses als Anlass für einen Aufschwung der rechtsextremen Politik.
Außerdem ist es wichtig, die Tatsache anzuerkennen, dass auch in Griechenland diese Entscheidung nicht die ultimative Lösung aller Probleme der queeren Community darstellt. Die Aktivistin Despina Paraskeva-Veloudogianni, Kampagnenkoordinatorin von Amnesty International Griechenland, äußerte sich sowohl anerkennend als auch enttäuscht über das neu verabschiedete Gesetz. Sie merkte an, dass die gesetzlichen Änderungen zwar einen entscheidenden Schritt nach vorne bedeuten, aber nicht ausreichen, um eine vollständige Gleichstellung nicht-biologischer Eltern zu erreichen, und dass sie es versäumen, Identitäten jenseits des binären Geschlechts anzuerkennen. Paraskeva-Veloudogianni betonte, dass das Gesetz wichtige Fragen wie die Erleichterung des Zugangs zu assistierter Reproduktionstechnologie für gleichgeschlechtliche Paare, alleinstehende Männer, Transgender und intersexuelle Personen nicht behandelt. Darüber hinaus wies sie auf einen wichtigen Mangel des neuen Gesetzes hin, der darin besteht, dass die Änderung des Namens und des Geschlechts von Transgender-Personen in den Geburtsurkunden ihrer Kinder immer noch verhindert wird.
Die Ablehnung der Einbeziehung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung in dem Gesetzesprojekt erregte Aufmerksamkeit, da Ministerpräsident Mitsotakis sich dagegen aussprach, Griechenland zu einem „Experiment Europas“ zu machen, erklärt Euractiv. Diese differenzierte Sichtweise verdeutlicht sowohl die Fortschritte als auch die bestehenden Lücken bei der Realisierung umfassender LGBTQ+-Rechte in Griechenland.
Was folgt nun?
„Was ich befürchte, ist, dass die Menschen in anderen osteuropäischen Ländern dazu motiviert werden könnten, keine besseren, sondern schlechtere politische Entscheidungen zu treffen. Wenn es in einem Land, auf einem Kontinent oder generell in der Welt an politischer Stabilität mangelt, könnte man aus Angst dazu motiviert werden, mutiger zu sein und verrückte Dinge zu tun, die niemandem etwas nützen. Das gilt auch für Politiker*innen, die sich von den Fortschritten anderer Länder bedroht fühlen und genau das Gegenteil tun wollen werden.“
Das sagt die rumänische Menschenrechtsaktivistin Inoke Ibacka darüber, was die potenziellen Folgen der Entscheidung Griechenlands für den Rest Europas bedeuten könnten. Wie viele andere Aktivist*innen aus osteuropäischen Ländern, deren Situation vor kurzer Zeit ähnlich der in Griechenland war, befürchtet sie, gekoppelt mit dem Aufschwung des Rechtsextremismus in Europa, eine eher negative Entwicklung.
Schlussfolgernd kann gesagt werden, dass es zwei unterschiedliche Szenarien gibt, die sich aus dieser historischen Situation ergeben könnten: Entweder wird dieser Hoffnungsschimmer ein wahrer erster Schritt in der Bekämpfung der Führungsposition der orthodoxen Kirche sein, oder er wird eine unerwartete Gegenreaktion von den osteuropäischen Nachbarländern verursachen. Insbesondere wird es im Weiteren auch interessant sein zu beobachten, wie andere Länder, die von rechten Parteien regiert werden – wie zum Beispiel Italien – auf Griechenlands Entscheidung reagieren werden. Werden andere konservative Länder die gleichgeschlechtliche Ehe ebenso legalisieren, um davon im europäischen Kontext politisch zu profitieren – oder kann sich die LGBTQ+ Community nun tatsächlich endlich erleichtert fühlen und darauf aufbauen, dass Fortschritte gemacht werden?
Quellen:
https://www.ecchr.eu/en/case/greece-before-the-european-court-of-human-rights/