Die EU: Ein demokratiedefizitäres Verwaltungsmonstrum mit Regulierungswahn?
Das neue Jahr bringt Europawahlen mit sich und die neuesten Eurostat-Umfragen zeigen erneut: Österreich tut sich schwer mit der Europäischen Union. Nur 42 % der Österreicher:innen bewerten die Mitgliedschaft in der EU als positiv, 22 % sehen sie gar als etwas Schlechtes an – was den niedrigsten bzw. höchsten Wert in der gesamten Union darstellt.[1] Diese Zahlen sind drastisch, aber wenig verwunderlich: Stimmungsmache gegen die EU ist innenpolitisch durchaus praktisch und keinesfalls nur mehr als Instrument offen EU-feindlicher Parteien wie der FPÖ anzusehen. Nur: Nicht jede Kritik ist gerechtfertigt und vieles schlichtweg populistisch.
Die EU entscheidet über unsere Köpfe hinweg…
Es weckt zugegebenermaßen ein Gefühl der Fremdbestimmung, ständig zu lesen, dass „Brüssel“ nun dieses vorgibt oder in „Brüssel“ nun jenes entschieden wurde. Doch wer entscheidet in Brüssel was? Das vielbesprochene Demokratiedefizit lässt sich gut kontern, wenn man sich Grundsätzliches darüber, wie die EU funktioniert, zu Gemüte führt. Zunächst ist ganz allgemein festzuhalten, dass die Europäische Union ein freiwilliger Zusammenschluss souveräner Staaten ist. Sie sind es, die der EU Kompetenzen übertragen oder sie – mittels Vertragsänderung – auch wieder beschränken könnten. Staaten treten mittels Beitrittsgesuch bei, können aber – wie uns der BREXIT gezeigt hat – auch wieder austreten. Ist ein Staat offiziell ein Mitgliedstaat, wirkt er u.a. bei der Gesetzgebung mit. Diese geschieht auf EU-Ebene durch zwei bzw. drei Organe: Zunächst schlägt die Kommission, die bis dato immer noch Vertreter:innen aller Mitgliedstaaten aufweist, ein Gesetz vor. Beschlossen wird dieses anschließend vom Europäischen Parlament und dem (Minister-)Rat[2]. Das EU-Parlament wird alle fünf Jahre (so auch dieses Jahr) bei der Europawahl von allen Bürger:innen der Mitgliedstaaten direkt gewählt. Der Rat tritt je nach Materie in unterschiedlichen Zusammensetzungen zusammen. Die einzelnen Mitglieder werden von ihren jeweiligen nationalen Regierungen ermächtigt, dort ihr Stimmrecht auszuüben. Das EU-Parlament erhält demnach seine demokratische Legitimation direkt durch die Unionsbürger:innen, der Rat indirekt durch die nationalen Wahlen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Man spricht hierbei auch von der doppelten Legitimation.[3]
Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik an den (weniger) demokratischen Strukturen innerhalb der Union und es ist enorm wichtig, die demokratische Legitimation durch Vertragsänderungen hindurch im Auge zu behalten. Es gilt aber zu beachten, dass die EU eine supranationale Organisation ist und kein Staat, weshalb hier unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen sind. Auch ist die Union stetig um Demokratisierung bemüht, wie die gestärkte Rolle des Parlaments oder auch das Paket zur Verteidigung der Demokratie zeigt.[4] Man kann sicherlich hundert weitere Artikel zur EU-Demokratie Thematik verfassen, es zeigt sich dennoch: So einfach ist dieses „von oben diktieren“ nicht.
…kostet zu viel und bringt uns nichts…
Die Europäische Union hat eine Fläche von über 4 Millionen km2, 451,4 Millionen Einwohner:innen in 27 Mitgliedstaaten und 24 Amtssprachen.[5] Enorm hohe Verwaltungskosten sind also mehr als naheliegend, der Schein aber trügt: Tatsächlich machen die Kosten für die europäische öffentliche Verwaltung nur etwa 6 % des Jahresbudgets aus, inklusive der Gehälter der etwa 60 000 Verwaltungsangestellten. Gerechnet auf die Einwohner:innenzahl ergibt sich daraus ein:e Beamt:in für 7 500 Unionsbürger:innen. Zur Veranschaulichung: In Paris beträgt dieses Verhältnis etwa 1:45, in der gesamten Steiermark 1:168.[6] Natürlich hinkt der Vergleich etwas, da auf Unionsebene weniger Verwaltungsaufwand anfällt, der individuellen Kontakt mit den Behörden erfordert. Ein so großes Verwaltungsmonstrum, wie es oft den Anschein erweckt, stellt die EU aber dennoch nicht dar. Kosten tut uns die EU dennoch einiges. Vor allem in den sogenannten „Nettozahlerländern“ ist dieses Thema ein Dauerbrenner und dient als Grundlage für Kritik an der EU. Diese Länder, zu denen z.B. Deutschland, Frankreich und auch Österreich zählen, zahlen – rein buchhalterisch gesehen – mehr in die EU ein, als sie an Leistungen zurückerhalten. Klingt zunächst wie ein schlechter Deal, doch auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen: Deutschland als größter Nettozahler profitiert laut Studien auch am meisten vom EU-Binnenmarkt, dem Handelsraum ohne Zölle innerhalb der EU. Generell sollte an die Grundfreiheiten für Personen, Waren, Kapital und Dienstleistungen gedacht werden, die jedem Mitgliedstaat zugutekommen. Auch für Österreich ist der Binnenmarkt ein wichtiger Faktor, da wettbewerbsfähige Branchen vorhanden sind, die aufgrund des kleinen Inlandsmarktes aber besonders guter Exportmöglichkeiten bedürfen.[7]
…und schreibt uns jeden Blödsinn vor!
Der „Regulierungswahn“ ist wohl das am häufigsten debattierte Thema. Warum man dafür nicht (nur) Brüssel die Schuld in die Schuhe schieben kann, wurde eingangs schon erörtert. Zu guter Letzt sollten aber auch einige gängige Mythen über das angebliche Machwerk der Eurokraten geklärt werden. Die Staaten sind nicht nur diejenigen, die der EU ihre Kompetenzen geben, sondern auch maßgeblich dafür, was letztendlich beschlossen wird. Seit 2009 (!) nicht mehr in Kraft und dennoch der Inbegriff für Überregulierung: Die EU-VO 1677/88, besser bekannt als „Gurkenkrümmungsverordnung“. Diese war eine Forderung des Einzelhandels der Mitgliedstaaten sowie Empfehlung sowohl der UN-Wirtschaftskommission als auch der UN-Welternährungsorganisation, an denen auch Österreich als Mitglied beider Gremien aktiv mitwirkte. Ziel war es eigentlich – wie der eigentliche Name „Handelsklassenverordnung“ schon verrät – Obst und Gemüse klar in Handelsklassen einzuteilen. Heraus kam ein Sinnbild für die Verordnungsflut.[8] Ein weiteres Beispiel vermittelt recht anschaulich, dass man manchmal genauer hinschauen sollte, wenn über Brüssel gewettert wird. 2016 war der Aufschrei groß, als bekannt wurde, dass die EU-Kommission die Zulassung für das umstrittene Spritzmittel Glyphosat verlängern wird. Nicht in die große Berichterstattung schaffte es allerdings die Information, warum: Sowohl für die Zu-, als auch die Ablehnung des Kommissionsvorschlages mangelte es an Stellungnahmen seitens der Mitgliedstaaten.[9] Zurücklehnen und Abwarten – bei politisch heiklen Themen äußerst praktisch. Um solche Situationen zu verhindern, schlug die Kommission 2017 eine Änderung dieser Beschlussfassung vor. Darüber beschließen müssten allerdings EU-Parlament und Rat, die im Hinblick darauf, dass sich der Vorschlag bereits seit sieben Jahren in der ersten Lesung befindet, offensichtlich kein allzu großes Interesse daran haben.
Tatsächlich macht es sich die Kommission selbst manchmal nicht einfach mit ihrem Image, wenn gute Intentionen, wie Datentransparenz, zu kollektiven Schrecken, wie den allseits bekannten Cookie-Bannern auf jeder Website führen. Solche Fehlgriffe sind aber nichts EU-genuines. Und es ergibt sich auch der Eindruck, dass vieles, was über die EU (vermeintlich) bekannt ist, nicht der ganzen Wahrheit entspricht oder gar schlichtweg falsch ist. Das ließe sich ändern, wenn – auch vonseiten der Politik – in der Gesellschaft mehr Aufklärung stattfände. Letztlich könnte man damit, zumindest was europapolitische Themen angeht, populistischen Aussagen den Wind aus den Segeln nehmen, was auch unserer Innenpolitik zweifelsfrei guttun würde.
[1] https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/3152
[2] Rat der Europäischen Union, nicht zu verwechseln mit dem Europarat.
[3] https://www.parlament.gv.at/dokument/unterlagen/Das-oesterreichische-Parlament-und-die-Europaeische-Union_11_22_BF.pdf
[4] https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/new-push-european-democracy/protecting-democracy_de
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/164004/umfrage/prognostizierte-bevoelkerungsentwicklung-in-den-laendern-der-eu/ ; https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/key-facts-and-figures/life-eu_de#:~:text=In%20der%20EU%20leben%20448
[6] https://germany.representation.ec.europa.eu/system/files/2019-05/heyn_ek-mythoseu_final-digital.pdf
https://www.news.steiermark.at/cms/beitrag/12895119/154271055/
[7] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/70580/nettozahler-und-nettoempfaenger-in-der-eu/#:~:text=Bezogen%20auf%20das%20jeweilige%20Bruttoinlandsprodukt,(minus%200%2C34%20bzw.
[8] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kruemmungsverordnung-aus-bruessel-gerechtigkeit-fuer-die-gurke-1.1695150
[9] https://www.zeit.de/wissen/2016-06/eu-kommission-verlaengert-glyphosat-zulassung