Unwissen schützt vor Verantwortung nicht
AUSTRALIEN. In einem Land mit 65 000 Jahren Zivilisationsgeschichte bleibt die rechtliche Stellung der indigenen Bevölkerung ein umstrittenes Thema. Ein Referendum zur Anerkennung der Aborigines und Torres-Strait-Islanders in der Verfassung hätte unlängst die politische Repräsentation von Australiens Indigenen stärken sollen. Doch die Verfassungsänderung wurde abgelehnt – unter anderem aufgrund einer problematischen Gegenkampagne.
65 000 Jahre – das ist der Zeitraum, seitdem auf dem australischen Kontinent Zivilisation existiert. Das Land wurde zunächst von indigenen Völkern, den Aborigines und Torres-Strait-Islanders, bewohnt. Doch nach der Ankunft der Briten James Cook und Arthur Phillip wurde Australien ab 1788 zur Siedler:innen-Kolonie Großbritanniens. Die Brit:innen erklärten das Gebiet zur terra nullius (‚Niemandsland‘) – einem Stück Erde, das niemandem gehört. Diesen Besitzanspruch rechtfertigten die weißen Kolonisator:innen vor allem dadurch, dass sie die Kultur der ansässigen indigenen Bevölkerung als minderwertig erachteten. Indigene wurden enteignet, das Gebiet ging in den Besitz der Brit:innen über. Dass viele indigene Völker Australiens eine besondere Beziehung zu dem Land, auf dem sie leben, pflegen, wurde vollkommen missachtet. Zudem führte die Ankunft der Kolonisator:innen zu einem massiven Rückgang der indigenen Bevölkerung, die von eingeschleppten Krankheiten dahingerafft oder in Massakern getötet wurde. Innerhalb kürzester Zeit kam es zu einer vollkommenen Neuordnung Australiens: Wäre die Geschichte des australischen Kontinents ein Tag, so würde die Besiedelung durch Europäer:innen gerade einmal viereinhalb Minuten dauern – und doch kam es in dieser kurzen Zeit zu grundlegenden Umbrüchen, die den indigenen Völkern Australiens nach wie vor große physische wie auch psychische Schäden zufügen.
Gerade die relative politische Ohnmacht vieler indigener Völker Australiens zeugt von bestehenden Problemen, die als direkte Folgen des Kolonialismus des Britischen Reichs zu sehen sind. Die starke Unterrepräsentation von politischen Stimmen, die sich für die Anliegen von Aborigines und Torres-Strait-Islanders einsetzen, führt immer wieder zu Gesetzen und politisch-wirtschaftlichen Entscheidungen, die indigenen Kulturen und Bedürfnissen oft nicht gerecht werden. Im Sinne des Prozesses der Reconciliation (zu Deutsch in etwa: ‚Aussöhnung‘) zwischen Siedler:innen und Indigenen wurde daher Anfang dieses Jahres vorgeschlagen, die indigenen Völker Australiens offiziell in der Verfassung anzuerkennen und ein Indigenous-Voice-Gremium einzusetzen. Dieses sollte zu Fragen, die Aborigines und Torres-Strait-Islanders betreffen, Stellung nehmen und die Regierung bzw. das Parlament beraten können. Am 14. Oktober 2023 entschied die australische Bevölkerung in einem Referendum über diese Verfassungsänderung – mit einem klaren Ergebnis: 60,49% stimmten gegen die offizielle Anerkennung von indigenen Völkern in der Verfassung und somit auch gegen die Etablierung eines Beratungsgremiums.
Diese klare Ablehnung der rechtlichen Anerkennung von Indigenen ist wohl vor allem einer gefährlichen Rhetorik geschuldet, die sich im Vorfeld des Referendums in Australien abzeichnete. Gegner:innen des Referendums argumentierten, eine derartige Verfassungsänderung spalte die Gesellschaft, indem nur einem Teil der Bevölkerung Sonderrechte eingeräumt würden. Dass dieses Argument unsachlich ist, liegt auf der Hand. Denn die Machtdynamiken, die in Australien in den letzten 250 Jahren konsequent dazu geführt haben, dass Indigene enteignet, ignoriert und diskriminiert wurden, zeugen von einem: Die Gruppe, der seit der Kolonisierung des Kontinents durchgehend Sonderrechte eingeräumt wurden, sind wohl kaum Aborigines und Torres-Strait-Islanders.
Als noch problematischer erwiesen sich allerdings Kampagnen, die sich Unwissenheit zum Steckenpferd machten und unter dem Motto „If you don’t know, vote no!“ Australier:innen dazu animierten, gegen die geplante Verfassungsänderung zu stimmen. Eine solche Argumentation ist brandgefährlich – sie nutzt politische Unmündigkeit und Unwissen aus, um die Bevölkerung von einer ideologischen Position zu überzeugen. Statt informationsbasierter Argumentation basiert diese Kampagne also auf dem bewussten Zurückhalten von Informationen – und genau dadurch werden Ängste geschürt.
Derartige Überzeugungskampagnen auf Basis von Unwissen sind der Todesstoß für jegliche Demokratie, in der Menschen verantwortungsvolle und vernünftige Entscheidungen treffen. Denn Demokratie bedeutet, Verantwortung für die Mitgestaltung der politischen Zukunft zu übernehmen. Echte Verantwortung kann es jedoch nur dann geben, wenn wir danach streben, unsere politischen Entscheidungen zu begründen – und das können wir nur, wenn wir wissen, was wir tun. Nur durch unser eigenes Wissen können wir Machtmissbrauch von Politiker:innen entgegenwirken – denn diese wissen meist ganz genau, was sie tun, wenn sie versuchen, unsere Meinung in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken.