Amerika oder: Die widersprüchliche Macht
Die USA ist der globale Hegemon. Die Konsequenzen des russischen Überfalls auf die Ukraine haben das nur verdeutlicht. Der außenpolitischen Macht steht aber eine innenpolitische Schwäche und Instabilität gegenüber. Eine kurze Skizze der Schutzmacht Europas (u.a.).
Der Transatlantizismus ist seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine wieder in den Fokus gerückt. Dabei ist der Begriff irreführend. Nicht eine Partnerschaft auf Augenhöhe verbinden die USA und Europa, sondern eine Beziehung, in der Macht klar verteilt ist. Wir leben noch immer in einer amerikanischen Welt, in der Europa zwar eine nicht unwichtige Rolle spielt, aber in der die Führungsrolle unumstritten ist. Durch den Ukrainekrieg wurde die militärische, strategische, diplomatische und technologische Abhängigkeit vom transatlantischen Partner wieder deutlich und die über die letzten Jahre lustlos geführten Diskussionen zur Selbstverteidigung und strategischen Unabhängigkeit Europas (hauptsächlich von Frankreich angestrengt) sind nun völlig verstummt. Es ist wohl in erster Linie der amerikanischen Wirtschafts-, Militär- und Geheimdienstmacht zu verdanken, dass Russland in der Ukraine in Schach gehalten werden konnte. Letztere hat im entscheidenden Moment ausreichend Unterstützung bekommen, auch wenn natürlich die Leistung der ukrainischen Regierung und des ukrainischen Militärs sowie das Unvermögen und der generell marode Zustand des offiziellen Russlands ihren Teil beigetragen haben. Die geheime Geschichte des Ukrainekriegs wird wohl erst in Jahrzehnten geschrieben werden können, aber es ist keine unrealistische Einschätzung, dass diese Einiges über die Interventionen des amerikanischen Geheimdienst- und Militärapparats zu sagen haben wird. Darüber hinaus hat das subjektive Sicherheitsgefühl des gesamten Kontinents gelitten, was wiederum dazu führt, dass Amerika in symbolischer Geste das Schild über Europa hält. Konkret heißt das, dass historisch mehr oder weniger neutrale Staaten nun einen Nato-Beitritt anstreben, wie Schweden und Finnland (den Begriff ‚Finnlandisierung‘ gab es bis jetzt nicht umsonst), was für Russland eine deutliche Verlängerung seiner Nato-Grenze bedeuten würde. Anstatt sich aus einer angeblichen Umklammerung durch das Militärbündnis zu lösen, sieht sich Russland wohl bald einer erstarkten und vergrößerten Nato gegenüber, in deren Mitgliedsstaaten noch dazu die Militärbudgets kritisch ansteigen.
Zusammengefasst heißt das aus amerikanischer Sicht, dass der Überfall auf die Ukraine dazu geführt hat, dass Verbündete in stärkere Abhängigkeit geraten sind und ihren Status noch weniger als zuvor in Frage stellen, während Gegner (also eigentlich: der Gegner) ihre bestehende Schwäche offenbart haben und weiter geschwächt wurden bzw. sich selbst schwächten. Dazu kommt, dass all das just dann passiert, als die USA sich strategisch neu ausrichtet und ihre Position in Asien stärken will, um China als aufstrebende Weltmacht einzudämmen. Dem ist durch die Situation in Europa kein Abbruch getan. Der ‚Pivot to Asia‘, der unter Obama angekündigt wurde, wurde unter Trump und Biden fortgesetzt. Das Land, das einst den ‚Washington Consensus‘ vorgegeben, sich einer liberalen Weltordnung mit möglichst freiem Welthandel verschrieben und Chinas WTO-Beitritt 2001 (was für ein folgenschweres Jahr) ermöglicht hat, setzt plötzlich auf protektionistische Maßnahmen, die sich in erster Linie gegen den neuen Hauptkonkurrenten China richten, aber bisweilen auch Verbündete in Europa treffen (Trumps Zölle, Bidens ‚Green Deal‘, der nicht-amerikanische Produkte von Förderungen ausnimmt). Während manche Maßnahmen klare geopolitische Ziele verfolgen (zum Beispiel das weitreichende Halbleiterembargo, das letztes Jahr über China verhängt wurde), richten sich andere gegen die Kehrseite all dieser Machdemonstrationen, nämlich die innenpolitische Instabilität Amerikas.
Hinterhof der eigenen Macht
So war es das zumindest so kommunizierte Ziel von Donald Trump, durch protektionistische Maßnahmen nicht nur China als geopolitischen Gegner, sondern vor allem als wirtschaftlichen Konkurrenten zu schwächen und zu einer Revitalisierung der amerikanischen Industrie zu führen. Biden hat diese Politik mit schönerer Rhetorik und einem wiederentdeckten Sinn für Bilateralität (von dem, wie üblich, mehr gesprochen wird, als dass er gelebt wird – was aber dem ‚ehrlichen‘ Eigensinn der Trump-Jahre in jedem Fall vorzuziehen ist) fortgesetzt. ‚Industrieller Niedergang‘ ist aber eine sehr unvollständige Erklärung für die innenpolitischen Probleme Amerikas. Zwar sind Staaten im mittleren Westen wie Ohio, Pennsylvania und Michigan, die bei Präsidentschaftswahlen mittlerweile eine Schlüsselrolle spielen, von diesem Niedergang besonders betroffen, aber, um der sozialen Lage Herr zu werden, müsste über solche kurzfristigen Überlegungen hinausgegangen werden. Es reicht nicht gegen ein Teilproblem vorzugehen und das Auge bloß auf die nächsten Wahlen zu werfen (die in Amerika in besonders kurzen Intervallen ausgetragen werden, wenn man an das Repräsentantenhaus denkt), es braucht einen systemischen Wandel, um die soziale und politische Lage im Land zu stabilisieren. Angesichts der eingangs beschriebenen geopolitischen Situation, nach der die USA als Hegemon gelten kann, hat das Implikationen für die globale Stabilität. Joe Biden scheint all das zumindest teilweise verstanden zu haben. Gerne würde er als zweiter Franklin D. Roosevelt gesehen werden, aber ihm fehlen Handlungsspielraum und Vision. Manche Errungenschaften Bidens erster zwei Jahre als Präsident sind zwar durchaus beachtlich, aber die momentane politische Lage im Land lässt keine weitreichenden Veränderungen zu. Ungleichheit, Armut, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit, Kriminalität, Waffengewalt, marode Infrastruktur, fehlende öffentliche Leistungen, schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung, unzureichender Konsumentenschutz: die Liste erheblicher Missstände ließe sich noch beliebig lang fortsetzen. Aber all diese sind zweitrangig im Vergleich mit dem zentralen Problem, das die USA heute plagt: die Erosion der Demokratie und liberaler Grundprinzipien.
Eine alte, gefährdete Demokratie
Natürlich kann diese Erosion als Symptom tieferliegender sozialer Probleme gedeutet werden, aber ohne funktionierende Demokratie, die auf liberalen Prinzipien fundiert ist, werden diese Probleme nicht angegangen werden können. Die Radikalisierung der republikanischen Partei, die einseitig-republikanische Dominanz des Verfassungsgerichtshofs, die Einschränkung und Behinderung von Wählerrechten, die völlig opportunistisch vollzogene Einteilung von Wahlbezirken, die zunehmend disproportionale Macht bevölkerungsarmer Staaten zwischen den Küsten und die auf antiquierte Weise föderal organisierten Präsidentschaftswahlen (was u.a. zum Wahlsieg Donald Trumps führte) tragen zu einer generellen Unterminierung demokratischer und liberaler Grundvoraussetzungen bei, die effektives politischen Handeln erst möglich machen. Stattdessen klammert sich eine wohlhabende Elite, die immer wohlhabender wird (darunter Republikaner:innen und Demokrat:innen), an ihren privilegierten Status, während die Mittelschicht völlig wegzubrechen droht und sich ein allgemeines Gefühl der Prekarität, des Pessimismus und der sozialen Missgunst breit macht. Eine Aushebelung der Demokratie nach ungarisch-polnisch-israelischem Vorbild durch eine zunehmend extremistisch agierende republikanische Partei würde dieses soziale Schisma verstärken und verknöchern. Ein bereits plutokratisches System mit vielen demokratischen Unzulänglichkeiten würde sich völlig gegenüber dem Modell öffnen, das weltweit mittlerweile erschreckend oft angewandt wird: das einer defizitären Demokratie. Illiberal, undemokratisch, korrupt, kleptokratisch, politisch völlig reaktionär – das wäre die Zukunft, wenn sich die antidemokratischen, extremistischen Kräfte in den USA durchsetzen würden.
Die Ergebnisse der Midterms vergangenen Herbst geben Grund zur Hoffnung, aber noch ist nichts gewonnen. Selbst wenn der Gouverneur Floridas, Ron DeSantis, in den kommenden Vorwahlen Donald Trump ausstechen sollte, wäre das noch kein Sieg für den moderaten Flügel der republikanischen Partei (wenn ein solcher überhaupt noch existiert). Im Gegenteil, es würde nur beweisen, wie normalisiert das autokratische Gehabe unter Republikanern mittlerweile ist. Was es wirklich brauchen würde, wäre eine Serie von schweren Verlusten für die republikanische Partei, die ein nachhaltiges Umdenken und einen Schwank zur ‚Mitte‘ ermöglichen könnte. Das Land braucht einen politischen Pluralismus, aber im Moment ist die republikanische Partei schlichtweg eine Gefahr für die Demokratie und aufgrund der globalen hegemonialen Rolle der USA ein Faktor der Instabilität weltweit.
Die Verantwortung bleibt
Was zurückbleibt ist das Bild einer widersprüchlichen Macht: Amerika, die größte Volkswirtschaft der Welt; Amerika, mit seinem global mit Abstand mächtigsten Militär-Geheimdienst-Diplomatie-Apparat; aber auch: Amerika, die alte, gefährdete Demokratie, in der soziale Missstände und eine politische Unkultur das gesamte System auszuhebeln drohen. Im Kontext der brisanten geopolitischen Lage mit einem aufstrebenden China und einem verbrecherisch agierenden Russland muss sich Europa die Frage stellen, wie man sich auf eine Situation vorbereiten kann, in der die Schutzmacht, der engste Verbündete, nicht mehr die Werte und Prinzipien teilt, die einst Grundlage gemeinsamen Handelns waren. Die USA dagegen muss ihre innenpolitischen Probleme lösen oder zumindest lindern, auch um ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden.