Kenne deine Rechte

„Ich war ein freier Mensch im Käfig“


Die Fotografin Habiba Alizada musste Afghanistan verlassen und lebt heute in Deutschland. Asiyeh hat sie erzählt, warum ihr Leben ein Tabu bricht und Kunst ihre Rettung ist.

Ich bin in Mashad im Iran geboren, dort habe ich die Schule besucht und islamische Philosophie im Bachelor abgeschlossen. Nach dem Studium wollte ich was anderes machen und weil ich mich seit meiner Jugend für Fotografie interessierte, wurde ich Teil des Verbands afghanischer Fotograf:innen in Mashad. Dieser Verband war für mich wie ein Funke, um in die Welt der Fotografie einsteigen zu können. Mein Interesse an der Fotografie wuchs allmählich und ich mietete ein Zimmer, wo ich arbeiten konnte.

Die Arbeit war aber sehr stressig, denn es war illegal, eine Wohnung gewerblich zu nutzen. Als Afghanin durfte ich mein Gewerbe auch nicht anmelden, deshalb arbeitete ich zusammen mit einem Iraner, wofür ich später eine Strafe erhielt. Es war für mich nicht mehr möglich, im Iran weiter als Fotografin zu arbeiten. Mein großes Interesse an der Fotografie und die Fortsetzung dieses Bereiches veranlassten mich, den Iran zu verlassen. Ich sagte meiner Familie, ich will nach Afghanistan auswandern, und sie waren alle damit nicht einverstanden.

„Ich werde diese schwierige Zeit nie vergessen.“

Es war und ist für eine Frau tabu, allein und fern von ihrer Familie in einem anderen Land zu leben. Ich durfte selbst für mein Leben nur aus einem einzigen Grund keine Entscheidung treffen: Der Grund war, dass ich eine Frau bin. Ich war ein freier Mensch im Käfig und das wollte ich bekämpfen. Ich bin im Jahr 2018 nach Kabul gegangen, ohne finanzielle oder emotionale Unterstützung von meiner Familie zu erhalten. Ich werde diese schwierige Zeit nie vergessen. Am Anfang hatte ich in Kabul keine Unterkunft, keine Freund:innen und Bekannte. Niemand weiß, welche harten und schmerzhaften Tage ich durchgemacht habe … Das Einzige, was ich kannte, war meine Kunst, die Fotografie, und sie war der einzige Weg, mich zu retten.

Afghanistan war mir sehr fremd und ich musste mich dort integrieren. Wir sprachen dieselbe Sprache, aber es gibt einen massiven Unterschied zwischen den iranischen und afghanischen Kulturen. Das Patriarchat war dort viel stärker als im Iran wahrzunehmen. Nach einem Jahr in Kabul fand ich eine Beschäftigung im Büro, wo ich die einzige Frau zwischen den acht männlichen Mitarbeitern war. In einer Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen und religiösem Fundamentalismus hat eine Frau keinen Wert. Eine Frau dient nur als eine Gebärmaschine, eine Sklavin und ein sexuelles Werkzeug für Männer. Eine Frau und Gleichheit, eine Frau und Freiheit, eine Frau und Sicherheit, eine Frau und Selbstbestimmung – diese Begriffskombinationen sind den Männern unbekannt.

Als ich dort Wohnungen besichtigte, fragten mich die Männer: Hast du keine Kinder und keinen Mann? Ich belog sie, dass ich verlobt sei und Verwandte in Kabul hätte, um mich vor verbaler Belästigung zu schützen. Damals gab mir der Glaube an mich und meinen Weg sehr viel  Kraft. Ich sagte mir: Habiba, das ist die Stadt, die du ein Leben lang bewohnen wirst, du wirst dich in einen Mann verlieben, du wirst eine Familie gründen und Kinder bekommen. Du musst die Menschen, die Mentalität und die Kultur kennenlernen. Ich war verliebt in Afghanistan, dort war meine Heimat, wo ich meine Wurzeln hatte.

Ich habe in Kabul in meinem Fotostudio fotografiert. Anfang März 2021 hatte ich die Ausstellung „Anar is alive“. Diese Ausstellung umfasste eine Sammlung von Granatäpfeln und Nägeln. Die Bilder sind ein flüchtiger Blick auf die Situation der Frauen in Afghanistan. Der Granatapfel symbolisiert die Frauen um mich herum. Sie zeigen die Frauen in einer patriarchalen Community, die in der Hoffnung leben. Sie kämpfen um ihr Leben und ihre Rechte. Sie versuchen, trotz der gewaltsamen und frauenfeindlichen Umgebung ihre Weiblichkeit, ihre Stärke und ihre Unabhängigkeit zu zeigen.

Die Weiblichkeit ist Teil ihrer Identität, welche ständig von Männern unterdrückt wird. Die Frauen suchen nach einer Gelegenheit, ihre Weiblichkeit und Unabhängigkeit zu zeigen, auch nur für einen Moment, um eine Tasse zu greifen, ohne von einem Mann angewiesen zu werden. Granatapfel beschreibt die Frauen, die mehr als 20 Jahre im Krieg sind. Die Nägel sind überall, sie symbolisieren das Leiden im Leben und ihre Präsenz ist dauerhaft. Man sieht die Nägel auf dem Granatapfel, sie sind miteinander und ineinander verflochten. Der Granatapfel behält aber seine Identität unter allen Umständen. Auf einem Foto sind Granatapfelkerne und Nägel gemischt, aber es sind noch mehr Granatapfelkerne sichtbar. Wir Frauen kämpfen für unsere Rechte und fordern die Gerechtigkeit. In Kabul standen wir den Taliban gegenüber und demonstrierten für unsere Rechte. Wir arbeiten daran, die Taliban abzulehnen und sie niemals als Regierung zu akzeptieren. Der Ansatz der Taliban ist klar: Sie verwehren Frauen, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem alle Frauen ihr natürliches Recht auf Gleichberechtigung erreichen.

„Meine Identität ist nicht versteckt“

Die Nacktheit einer Frau in Bildern hat nur eine Botschaft: Sie steht für eine unabhängige und freie Identität der Frau, abseits von den Zuschreibungen, die sie umgeben. In unserer Gesellschaft bedeutet Freiheit gleich Prostitution. Besonders die Nacktheit afghanischer Frauen, welche ich durch traditionelle Augen porträtiert habe, kommt in dieser religiösen Gesellschaft einer großen und unverzeihlichen Sünde gleich. Denn die Gesellschaft lehrt uns das und alles, was wir produzieren, muss durch ihre Filter passen. Meine Ansicht und der Anspruch, den ich habe, sind das Ergebnis des Lebens in dieser Gesellschaft und des Umgangs mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Es gibt sicherlich Ausnahmen. Doch die allgemeine traditionell-religiöse Ansicht ist abergläubisch.

Ich kann ganz klar sagen: Völlige Opposition zum Geschlecht und der Identität der Frau ist intellektuelle Stagnation und mangelnde Entwicklung des menschlichen Konzepts. Der Trachtenhut repräsentiert in dieser Arbeit eine begrenzende und vorherrschende Realität, die ich gesehen und gelebt habe. Tradition und Religion herrschen über meine freie und unabhängige Identität und meinen Körper. Sie entscheiden für mich und ich gehorche um meines Überlebens willen wie eine Soldatin dem Befehl anderer. Aber das ist schon eine Weile her. Wir afghanischen Frauen sind in den Vordergrund gerückt, indem wir unsere menschliche Identität bewahrt haben und Frauen sind. Wir sind die Königinnen unseres Lebens. Das Fehlen eines Gesichts zeigt, dass sich die Frau in ihrem Inneren versteckt.

Habiba Alizada wohnt in München. Sie musste Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban verlassen. Sie hat in Deutschland um Asyl angesucht und hat bisher keinen Aufenthaltstitel erhalten. Sie versucht über YouTube Deutsch zu lernen und arbeitet an ihre künstlerischen Ideen.

Asiyeh Panahi kennt Habiba Alizada aus Mashad, wo die beiden Mitglied desselben Kulturinstituts waren.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Megaphon: https://www.megaphon.at/wp-content/uploads/megahpon_maerz_2022.pdf


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