Kenne deine Rechte

Stell dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin


Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine verursacht vielerorts Sorgen. Viele meinen, es sei nun an der Zeit, in Europa über Aufrüstung und Machtpolitik nachzudenken. Anstatt uns jedoch auf Militärgewalt und Machtdemonstrationen zu fokussieren, sollten eigentlich Deeskalation und die Sicherung des Friedens unsere langfristigen Ziele sein.

Was aktuell in der Ukraine geschieht, bewegt und besorgt viele von uns. Die Zeitungen und sozialen Netzwerke gehen über mit Bildern von Explosionen, Panzern und bewaffneten Menschen. Ebenso häufig wie solche Fotos sind auch die vermeintlich klugen Worte von scharfsinnigen Journalist:innen, die meinen, genau zu wissen, wieso es so weit kommen konnte und was in Zukunft diesbezüglich gemacht werden müsste. Vom Aufrüsten Europas ist da oft die Rede. Und von mehr Machtpolitik.

Ich möchte mich mit meinem Artikel nicht in diese klugen Analysen einreihen. Erstens will ich mich nicht als Pseudo-Geopolitik-Experte ausgeben. Pseudo-Expert:innen haben und hatten wir in den vergangenen Jahren genug – und diese tragen selten etwas Sinnvolles zur öffentlichen Diskussion bei. Zweitens möchte ich mich aber auch nicht in diese Analysen einreihen, weil ich eines ganz fest glaube: Das, was wir als Menschheit brauchen, sind nicht noch mehr Waffen und Machtdemonstrationen. Wir brauchen mehr Dialog, Offenheit und Politiker:innen, die nicht machthungrige Egoman:innen sind, sondern deren oberste Priorität das Wohl möglichst aller Menschen ist.

Ja, das ist utopisch. Und nein, ich glaube nicht, dass mit einem Autokraten wie Putin ein pädagogisch wertvoller Streichelkurs zu einer Lösung führen wird. Aber eine Politik, in der mehr Geld in ein ständiges Kräftemessen der Panzerfäuste fließt als in Maßnahmen, die tatsächlich den Menschen zugutekommen, kann auf lange Sicht nicht nachhaltig sein.

Betrachten wir doch die Absurdität des Krieges: Tausende Soldat:innen werden in den Kampf geschickt, um den Interessen irgendeines größenwahnsinnigen Machthabers zu dienen. Eine Unzahl von ihnen verliert das Leben. Und wofür? Für aufgeblasene Begriffe wie „das Vaterland“, „die Ehre“ oder ein herbeibeschworenes „Uns“. Sie alle könnten leben – sie alle werden absurden Machtspielen geopfert. Gerade deshalb mutet es fragwürdig an, wenn zur aktuellen Stunde ukrainische Soldat:innen, die bei der Verteidigung ihres Landes sterben, zu Held:innen stilisiert werden. Denn auch sie sind letzten Endes die Verlierer:innen eines Krieges, der nie hätte stattfinden sollen. Ja, nie hätte stattfinden dürfen.

Genau das muss auch unsere langfristige Perspektive als Menschheit sein: gewaltvolle Konflikte und damit einhergehend auch das Leid unzähliger unschuldiger Menschen um jeden Preis vermeiden. Zudem gilt es auch zu vermeiden, dass größenwahnsinnige Machthaber:innen ihre Macht schamlos missbrauchen. Die Umsetzung dieser Vision kann auf lange Sicht nicht durch das Auf-, sondern nur durch das Abrüsten erreicht werden, und zwar sowohl der Waffen als auch der Worte. Denn nicht nur die physische, sondern auch die verbale Eskalation ist eine besorgniserregende Tendenz unserer Zeit.

Dass ein Abrüsten der Waffen in näherer Zukunft wohl leider kaum realistisch ist, beweist die aktuelle Lage nur zu gut. Solange auch andere autokratische bis diktatorische Staaten – aber auch demokratische Großmächte – das Spiel mit den Panzerfäusten nicht bleiben lassen, werden wir wohl kaum in einer Welt der Entmilitarisierung leben können. Doch mit der verbalen Abrüstung kann bereits jetzt begonnen werden. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch verbale Konflikte geben kann. Doch diese müssen gewaltfrei und mit Respekt ausgetragen werden. Denn die Menschen müssen wieder lernen, sich gegenseitig zu verstehen und durch dieses Verständnis füreinander auch Empathie für andere entwickeln. Diese Empathie kann uns helfen, das Leid all jener nachzuvollziehen, denen der Krieg ihre Liebsten, ihr Dach über ihrem Kopf und ihre Existenz genommen hat. Das Leid jener Mütter, die bitterlich weinend ihre Nächte in den Kyjiwer U-Bahn-Stationen verbracht haben, um ihre Kinder zu schützen. Und auch das Leid all jener, die diesen Krieg nie wollten und durch ihn grausam aus dem Leben gerissen wurden. Wer dieses Leid versteht, wer die Not sieht, welche die ungebändigte Gewalt des Krieges zu verursachen vermag, der kann keinen Krieg wollen.

Ich kann keine militär- und strategiepolitischen Empfehlungen für die nächsten Jahre abgeben. Ich weiß nicht, wie man einen größenwahnsinnigen Autokraten zur Vernunft bringt. Aber ich weiß eines: Ich möchte, dass es eine Welt gibt, in der Carl Sandburgs Gedichtzeile „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ nicht nur eine Vorstellung bleibt, sondern Realität wird. Diese Welt ist leider nicht heute. Aber sie kann morgen sein.


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