Erinnerungen an Kiew
Seit dem 24. Februar häufen sich die Meldungen aus der Ukraine und deren Hauptstadt Kiew. In der Nacht auf den 24. Februar sind russische Truppen in das Land einmarschiert, die mittlerweile auch bis in die Hauptstadt vorgedrungen sind. In den sozialen Netzwerken befinden sich zahlreiche Bilder der ukrainischen Städte, auf denen man Soldaten, Panzer und zerstörte Häuser sieht. Kiew ist nun auch eingekesselt. Was der Stadt nun bevorsteht, ist das genaue Gegenteil meiner Erinnerungen an Kiew.
Drei Tage lang war ich gemeinsam mit meiner Familie im April 2019 in der knapp unter drei Millionen Einwohner:innen Stadt. Auf den ersten Blick war ich wenig begeistert, da die Temperaturen für mich sehr kalt waren. Auch die alten Betonhäuser, die im sowjet-Stil erbaut wurden, wirkten wie aus einer anderen Welt. Doch trotz des kalten Wetters und der grauen Häuser schloss ich die Stadt mit ihren zahlreichen Sehenswürdigkeiten und unterirdischen Einkaufszentren in mein Herz. Mit den von mir gesammelten persönlichen Eindrücken von Kiew, möchte ich nun durch diesen Artikel, ein Bild von der Stadt zeichnen, wie sie eigentlich ist – fernab von Krieg und blutiger Zerstörung.
Ein Muss für alle Tourist:innen, die Kiew besuchen, ist die tiefste U-Bahn-Station der Welt. Die Arsenala Station ist 105.5m tief und, wie die meisten Gebäude der Stadt, von der Ära des Kommunismus geprägt. Nicht nur Arsenala, sondern überhaupt die meisten U-Bahn-Stationen der Hauptstadt wirkten auf mich eher wie Kunstwerke, als nur Orte, um von A nach B zu kommen. Heute dienen die U-Bahn-Stationen Kiews als Bunker, um die Einwohner:innen, die sich noch in der Stadt aufhalten, vor Luftangriffen zu schützen. Bilder von Menschen, die neben den Schienen schlafen und sogar Bilder von einem Baby, dass in einem dieser provisorischen Bunker geboren wurde, kreisen im Netz.
Doch nicht alle Einwohner:innen verweilen in der Hauptstadt. Viele haben beschlossen, diese zu verlassen und sich auf den Weg in andere Teile der Ukraine, wie in die Stadt Lviv oder das nahegelegene Polen, aufzumachen. In den Zeitungen und Onlineportalen sieht man Bilder von Staus, die sich durch das stark erhöhte Verkehrsaufkommen stadtauswärts bilden. Einige dieser Straßen führen auch über den Dnepr Fluss, wo ich 2019 ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen genoss. Am Ufer des Flusses befindet sich ein „Outdoor Gym“. Hier werden unter anderem alte Möbel als Trainingsgeräte benutzt, die auch wir ausprobierten. Geht man einige Schritte weiter, kommt man zum sandigen Flussufer, wo man sich die Zeit vertreiben kann. Dass heute irgendwer im Outdoor Gym trainiert oder am Ufer des Flusses die Sonne genießt, ist angesichts der derzeitigen Situation eher unwahrscheinlich.
Eine weitere Sehenswürdigkeit, die wir uns nicht entgehen ließen, war der „Mutter der Nation“-Park und dessen riesige Statue. In meinem Tagebuch, das ich während meines Aufenthaltes in Kiew schrieb, vermerkte ich, dass wir erst um fünf Uhr am Nachmittag zu Mittag gegessen hatten. Mein Vater war so sehr mit den Panzern beschäftigt, die im Park aufgestellt waren, dass wir die Zeit übersahen. Wir hätten damals nicht glauben können, dass zu den alten Panzern, die als lustige Fotomotive für Tourist:innen zur Verfügung standen, neue hinzukommen würden. Diese dienen aber nicht den Tourist:innen, sondern der Verteidigung der Stadt vor den einmarschierenden Truppen.
Für immer in meinen Erinnerungen wird das Denkmal an die Opfer der Holodomor Hungersnot von 1932-33 bleiben. In einem großen Raum waren Bilder und Augenzeug:innenberichte der Hungersnot in einem grauen Licht dargestellt. Die Schilderungen waren so emotional, dass keine Augen trocken blieben. Aber nicht nur das Holodomor Denkmal erinnert and den Tod und Verlust vieler Menschen. Auf der Straße zum Hauptplatz, dem Maidan, waren Bilder, Kerzen und Blumen auf einer Mauer aufgestellt. Diese dienten zur Erinnerung an die Demonstrant:innen, die am 20. Februar 2014 gegen die damalige ukrainische Regierung demonstrierten. Die Sicherheitskräfte schossen auf die Demonstrant:innen. Es gab 50 Tote. Wie viele Tote wird nun der aktuelle Krieg bringen? Werden bald noch mehr Bilder, Blumen und Kerzen auf Straßenmauern stehen, um an die Opfer zu erinnern, die es noch geben wird?
Wenn ich heute die Zeitung lese und Orte sehe, an denen ich vor nicht einmal drei Jahren war und wenn ich mitbekomme, wie die vielen anderen ukrainischen Städte von Luftangriffen zerstört werden oder mit Panzern und Soldaten anstatt Passant:innen und Tourist:innen gefüllt sind, zieht es sich in meiner Brust zusammen. Krieg hat es schon immer auf der Welt gegeben, doch das ist das erste Mal, dass es in einem Land geschieht, wo ich schon einmal war. Diese Nähe hat mich erschreckt und mir gezeigt, dass dieser Krieg nicht zu „weit weg“ ist, um zu sagen, dass es uns nichts angeht. Denn genau das tut es. Dieser Krieg geht uns alle etwas an. Wir alle müssen alles in unserer Macht stehende tun, um es zu ermöglichen, dass die U-Bahn-Stationen in Kiew wieder ein Ort zum Bestaunen und nicht zum Verstecken sind; dass Menschen ohne Angst den Outdoor Gym am Ufer des Dnepr benutzen können; dass die Panzer wieder ein Fotomotiv und nicht eine brutale Realität sind.
Wir alle müssen alles in unserer Macht stehende tun, um es zu ermöglichen, dass man in Kiew und in der gesamten Ukraine wieder schöne Erinnerungen sammeln kann, so wie ich es selbst vor drei Jahren konnte.