CHALKBACK-EVENT von @catcallsofgraz
Frühlingshaftes Wetter sieht anders aus, obwohl es Anfang März ist. Kalter Wind bläst über die Herrengasse, der Himmel ist grau bedeckt. Am ersten Wochenende mit vielen Lockerungen der Corona-Maßnahmen gehen vereinzelt Menschen am frühen Nachmittag über den Hauptplatz. Sie blicken teilweise verwundert, teilweise verärgert auf die grauen Pflastersteine: „Geiler Arsch“ steht da mit pinker Kreide aufgemalt.
Was hat es damit auf sich? @catcallsofgraz hat am 6. März 2022, kurz vor dem Internationalen Weltfrauen*tag, ein Chalk-Back-Event veranstaltet. Der Grazer Verein, der einem New Yorker Vorbild folgt und mehrmals in österreichischen Städten vertreten ist, kreidet jeden Tag verbale sexuelle Belästigung meist auf den Ort ihres Geschehens an und postet die Fotos auf Social Media. Betroffene können sich auf Instagram, Facebook oder per Mail mit ihrem Catcall an das Team richten. Das Ziel ist es, sexuelle Belästigung für die Bevölkerung sichtbar zu machen. Einerseits frustrierend, dass für das Kernteam mit Sarah, Stefanie und Anna seit 2019 kontinuierlich Arbeit besteht, andererseits hoffnungsbringend, dass Betroffene den Mut haben, von ihrem Erlebnis zu erzählen.
Wie sieht so ein Chalk-Back-Event aus? Das zweimal im Jahr stattfindende Chalk-Back-Event findet am Grazer Hauptplatz statt. Die Aktivist:innen sind direkt vor Ort, laden zu Diskussionen und Gesprächen ein. Dabei kann man eingereichte oder selbst erlebte Catcalls mit bunten, zur Verfügung gestellten Kreiden auf die Pflastersteine malen. Als ich das ausprobieren möchte, wird mir beim Anblick der ersten Catcalls einfach nur schlecht: „Schlucken oder Spucken?“, oder „Ich frage nach dem 3G-Nachweis. Der Gast lacht: „Ich bin gesund, glücklich und GEIL“ *grinst*“. Dennoch hat es etwas Befreiendes, diese Sprüche aufzumalen und für die Gesellschaft sichtbar zu machen. Noch dazu könnte ich stundenlang die Reaktionen der Passant:innen beobachten.
Männergruppen, die sich lustig machen, auf aufgemalte Catcalls zeigen und sagen: „Den merk ich mir“, Männer, die sich die Catcalls durchlesen und mit einem Ausdruck schlechten Gewissens weitergehen, Männer, die ein Gespräch mit den Aktivist:innen suchen. Dabei kann es sich um eine Beschwerde oder ein Lob handeln. Heute wird Anna von einem bekennenden Maskulinisten angesprochen. Er beschreibt die immer schlimmer werdende Situation für Männer, den Leistungsdruck der Gesellschaft und die hohe Suizidrate. Er bringt im Gespräch ein, dass die Überhandnahme der Frauen seit den 1960er Jahren die Männer von ihrer Position gestoßen hat. Anna ist zuerst perplex, reagiert dann aber selbstbewusst, hinterfragt seine Gedanken, die er, je weiter sie nachhakt, selbst nicht mehr so erklären kann. Irgendwann reagiert er gar nicht mehr und geht einfach weiter. „Schade“, sagt Anna und zuckt mit ihren Schultern, „so was habe ich auch noch nie erlebt.“
Es sind auch einige Familien mit Kindern am Hauptplatz. Ein Mädchen, ungefähr im Kindergartenalter, zeigt auf einen Catcall mit „Boah, geiler Arsch!“ und fragt ihren Papa, was da steht. Der Papa sieht auf den Boden, atmet kurz durch und entgegnet: „Das lese ich besser nicht vor.“ Das Mädchen fragt abermals. Er sagt: „Das erkläre ich dir, wenn du größer bist.“ Das Mädchen stemmt die Hände in die Hüften, will nicht weitergehen, schmollt. Es dauert, bis der Vater sie dazu animiert, weiterzugehen. Für Kinder im jungen Alter ist verbale Belästigung vielleicht noch nicht greifbar, aber dennoch beginnt bereits im Kindergartenalter aktive Gesellschaftsbildung. Wie behandeln wir unser Gegenüber? Wie spreche ich mit Mädchen und wie mit Buben? Ich hoffe, dass der Vater mit dem Mädchen zumindest über das Thema redet. Verschont wird auch sie wahrscheinlich leider nicht davon bleiben. Mehr als 75% der Frauen und FINTA*-Personen werden zumindest einmal in ihrem Leben sexuell belästigt. Bei Männern beträgt die Zahl 24% und ist somit mehr als dreimal so gering .
Anna war in der letzten Podcastfolge von Weltverbessern für Anfänger:innen zu Gast und hat uns von @catcallsofgraz erzählt . Sie beschreibt darin auch Catcalls als erste Form sexualisierter Gewalt, die in unserer Gesellschaft massiv unterschätzt und heruntergespielt wird. Hier geschieht durch Beleidigungen, Drohungen und ausgeprägter Objektifizierung genauso eine Machtdemonstration und Unterdrückung. Das größte Problem in der Diskussion stellt die absolute Legalität von verbaler sexueller Belästigung dar; und genau das möchte das Team mit seiner eigenen Petition verändern . Unterzeichne auch du diese Petition, um sexuelle Belästigung zu bekämpfen und wenn du möchtest, dass Betroffene eine Möglichkeit haben sollen, sich gegen Catcalls zu wehren.
Ich bin darüber erstaunt, wie kunterbunt der Hauptplatz geworden ist und wie sichtbar die Sprüche der Catcaller:innen jetzt sind. Und egal, mit welchem Gesichtsausdruck und welcher Reaktion man die nächsten Tage über die bemalten Pflastersteine geht, man muss sich bewusst machen, dass dies ein Teil unserer Gesellschaft und unseres Alltags ist. Wir müssen uns Gedanken machen, wie es uns gelingen kann, Kinder von klein auf an dieses Thema heranzuführen, es ihnen nicht zu verheimlichen und ganz generell eine wertschätzende Umgangsweise beizubringen. Wir müssen die Augen offen halten und für Gleichberechtigung einstehen. Etwas anzukreiden ist hier vielleicht der erste Schritt.